Diskriminierung wegen Schwerbehinderung
Nach § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX haben die Arbeitgeber den Betriebsrat sowie die Schwerbehindertenvertretung über vorliegende Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten. In den Fällen einer Flut von eingehenden Bewerbungen, kann es schon einmal passieren, dass die Unterrichtung nicht erfolgt, weil bspw. die Schwerbehinderteneigenschaft eines Bewerbers übersehen wurde. In solchen Fällen könnte der benachteiligte Bewerber auf die Idee kommen, eine Klage auf Entschädigung zu erheben. Nach § 15 Abs. 1 AGG ist der Arbeitgeber bei einem Verstoß gegen Benachteiligungsverbot verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Üblicherweise werden 3 Monatsgehälter im Rahmen eines solchen Anspruchs anhängig gemacht.
Wie aber bringt der schwerbehinderte Bewerber überhaupt in Erfahrung, ob der Arbeitgeber gegen § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX verstoßen hat? Das BAG meint, dass sich der Bewerber hier nicht besonders bemühen müsse.
Für die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs reiche es aus, wenn er behaupte, dass weder der Betriebsrat noch die Schwerbehindertenvertretung unterrichtet wurden, vgl. BAG vom 14.6.2023 – 8 AZR 136/22.
Im vom BAG zu entscheidenden Fall verlangte der schwerbehinderte Kläger von der Arbeitgeberin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen Benachteiligung. Im Klageverfahren behauptete er, die Beklagte hätte u. a. ihre Pflicht aus § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX verletzt. Konkreten Vortrag hierzu leistete der Kläger aber nicht.
Das BAG hatte sich mit der Frage zu befassen, ob der Kläger der ihm obliegenden Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die Benachteiligung in ausreichendem Maße nachgekommen war. Die Vorinstanz war dabei noch der Auffassung, der Kläger hätte die Behauptung, die Beklagte habe den Betriebsrat nicht unmittelbar nach Eingang seiner Bewerbung unterrichtet, als Behauptung „ins Blaue hinein“ vorgebracht.
Das BAG stellte dann aber heraus, dass an den Vortrag des Klägers keine überzogenen Anforderungen gestellt werden dürfen. Die Partei sei nicht verpflichtet, den streitigen Lebenssachverhalt in allen Einzelheiten darzustellen. Es sei anerkannt, dass eine Partei Tatsachen behaupten könne, über die sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich oder jedenfalls für möglich hält, d. h. die sie nur vermutet. Die Grenze zum unzulässigen Sachvortrag sei grundsätzlich erst erreicht, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne sei allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel würde sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen.
Obwohl der Kläger die mangelnde Unterrichtung des Betriebsrats nur vermutete, war nach Auffassung des BAG kein Raum für die Annahme eines willkürlichen Vortrags. Der Kläger dürfe die von ihm nur vermutete Tatsache behaupten, weil er mangels eigener Erkenntnisquellen keine sichere Kenntnis von einer fehlenden ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats habe und auch nicht habe erlangen können. Denn der Kläger war nach dem Dafürhalten des Gerichts nicht gehalten, weitere eigene Sachverhaltsaufklärung zu betreiben, so z. B. den damaligen Betriebsratsvorsitzenden zu kontaktieren und um Auskunft über eine etwaige Beteiligung des Betriebsrats nach § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX zu ersuchen. Auch eine Verpflichtung zur Erhebung einer Klage auf Erteilung einer Auskunft gegen die Beklagte sah das Gericht nicht als vorrangig verpflichtend an.
Praxishinweis:
Diese Rechtslage verschafft dem klagenden Arbeitnehmer eine gute Ausgangslage. Diesem kommt die Beweislasterleichterung des § 22 AGG zugute. Danach genügt es, wenn der Bewerber Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung vermuten lassen. Nach gefestigter Rechtsprechung des BAG reicht es für eine Vermutungswirkung aus, wenn der nicht berücksichtigte schwerbehinderte Bewerber geltend macht, dass der Arbeitgeber gegen Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen verstoßen hat. Der verklagte Arbeitgeber muss dann im Prozess beweisen, dass eine erfolgte Benachteiligung nicht auf diskriminierenden Gründen beruht. Er könnte beispielsweise anhand konkreter Angaben in den Bewerbungsunterlagen darlegen, dass der schwerbehinderte Bewerber für die ausgeschriebene Position offensichtlich ungeeignet ist.
Betriebsrat kann Liste von Schwerbehinderten und leitenden Angestellten verlangen
Betriebsräte können vom Arbeitgeber eine vollständige Liste der schwerbehinderten – und diesen juristisch gleichgestellten – Arbeitnehmern verlangen, so das BAG mit Beschluss vom 09.05.2023 – 1 ABR 14/22. Weiterhin stellte das BAG klar: In diesem Punkt sind die Belegschaftsvertreter auch für leitende Angestellte zuständig.
Die Belegschaftsvertretung eines Entsorgungsdienstleisters wollte sicherstellen, dass dieser seine diversen Pflichten zugunsten von Schwerbehinderten im Unternehmen erfüllt – und auch von jenen Beschäftigten, die das Gesetz ihnen gleichstellt (also jenen, die nur einen “Grad der Behinderung von 30″ haben und nicht von 50). Um den Bedenken des Arbeitgebers entgegenzukommen, hatte die Belegschaftsvertretung ein umfangreiches Datenschutzkonzept erstellt. Doch das Management wollte die Informationen nicht herausrücken.
Wie schon das ArbG Karlsruhe und das LAG Baden-Württemberg ordnete das BAG das Verlangen des Betriebsrats als solches als berechtigt ein. So habe er Anspruch auf Auskunft über die Namen der schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern nach § 80 Abs. 2 S. 1 BetrVG. Nach dieser Vorschrift muss der Arbeitgeber den Betriebsrat zur Durchführung seiner Aufgaben rechtzeitig und umfassend unterrichten. Das BAG wies daraufhin, dass der Betriebsrat darüber zu wachen habe, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden.
Ausgiebig befasste sich das BAG ferner mit der Streitfrage, ob sich der Betriebsrat auch um leitende Angestellte kümmern dürfe, obwohl für diese normalerweise stattdessen der Sprecherausschuss zuständig sei (§ 5 Abs. 3 BetrVG i.V.m dem Sprecherausschussgesetz). Das darf er in diesen Belangen tatsächlich auch, so das BAG. Schließlich hätten Betriebs-, Personal-, Richter-, Staatsanwalts- und Präsidialräte nach § 176 SGB IX die Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern. Nach dieser Bestimmung haben sie insbesondere darauf zu achten, dass die dem Arbeitgeber obliegenden Verpflichtungen erfüllt werden, und auf die Wahl der Schwerbehindertenvertretung hinzuwirken. Die genannten Förder- und Überwachungsaufgaben des Betriebsrats (…) erfassen alle schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Arbeitnehmer und damit auch solche, die leitende Angestellte (…) sind”, lautet das Fazit.
Zwar werde das Gremium von diesen nicht mitgewählt. Doch mit den dort geregelten Förder- und Überwachungsaufgaben sollten der Schutz der schwerbehinderten und der ihnen gleichgestellten Menschen im Betrieb verstärkt und die Erfüllung der Verpflichtungen zu ihren Gunsten sichergestellt werden. Diese Wirkung würde nur unzureichend erzielt, wenn der Betriebsrat für die Wahrnehmung dieser Aufgaben zugunsten einer Personengruppe – der leitenden Angestellten – im Geltungsbereich des BetrVG nicht zuständig wäre: Die Schutzbedürftigkeit dieser Personen bestehe ausschließlich wegen ihrer besonderen Bedürfnisse. Den Fragen, welche Stellung der jeweils Betroffene im Betrieb oder Unternehmen hat und welche Befugnisse gegebenenfalls damit verbunden sind, kommt hingegen keine Bedeutung zu.
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